Donnerstag, 14. August 2014


Hier gab es die original Buchweizentorte aus Celle

Schweinemist und Fachwerkhäuser (Celle)


Der nächste Tag, unsere letzte Wanderetappe für dieses Jahr, führt uns durch den Naturpark Südheide bis zur Jugendherberge Celle. Auch diese Jugendherberge liegt am äußersten Rand der Kreisstadt, glücklicherweise aber an dem uns zugewandten. Auch so hat uns die 32 Kilometer-Distanz mehr als gereicht.
Nur wenige Kilometer hinter Müden passierten wir den Missionsort Hermannsburg. Dieser Ort mit seinem Saubermann-Image und seinen zur Schau gestellten Erinnerungen an seine auf Ludwig Harms zurückgehende Missionsgeschichte lassen bei mir Erinnerungen an meine pietistisch geprägte Jugendzeit hochkommen. Lange habe ich an die Menschen und meine Zeit in diesen freikirchlichen Gruppen nicht mehr gedacht. An all den moralin-sauren Zwang, die geistige Enge und Engstirnigkeit. Eltern, die ihren Töchtern verboten, Hosen zu tragen und sich das Haar abzuschneiden. Familien, für die ein Fernsehapparat einem Götzenaltar gleichgekommen wäre. Tanzen, Kartenspielen, Alkohol, Flirten – all das waren Versuchungen der „Welt“ und folglich tabu. Ich dachte, ich hätte diese Zeit mit ihrem unheilvollen Zwang vergessen. Aber es war nur weit nach hinten gedrängt. In Hermannsburg kam das schlechte Gefühl wieder hoch. In diesem kleinen Dorf in der Heide wurden Scharen von Missionaren „ausgebildet“, die zunächst Afrika und später andere Teile der „heidnischen“ Welt ungefragt mit den Segnungen europäischer Religion und Zivilisation beglückten.
Heute war man in Hermannsburg mit den Vorbereitungen eines Trachtenfests beschäftigt. Im Örtzepark eilten Helfer hin und her und bauten Zelte, Pavillons, Tische und Bänke auf. Wir hatten weder Zeit noch Lust, uns länger an diesem Ort aufzuhalten. In erster Linie galt das natürlich für mich. Hannes mit seiner katholischen Prägung hatte hier keine Probleme. Wir wanderten dennoch zügig weiter. Nach Celle war es noch weit genug.
In der Jugendherberge Celle wurden wir sehr freundlich empfangen und hielten noch in der Rezeption ein witziges Pläuschchen mit der Herbergsleitung. Es hätte uns gut gefallen, wenn – ja, wenn nicht dieser penetrante Geruch nach Schweinemist um das Haus gewesen wäre. Die Jugendherberge liegt im Celler Vorort Klein-Hehlen, direkt gegen über einem Betrieb mit Schweinehaltung. Sonst sind wir ja immer sehr für Natur und artgerechte Tierhaltung. Aber wenn man dann direkt gegenüber wohnt, vergisst man schon mal seine Überzeugungen. Wir mochten in unserem Zimmer gar nicht das Fenster öffnen.
Von Celle hat man einen superschnellen S-Bahnanschluss zum Flughafen Hannover. Das ließ uns bis zu unserem Abflug um 17 Uhr genug Zeit für einen ausgedehnten Stadtbummel. Auch wenn es abgedroschen klingt, wir waren wirklich begeistert. Celle hat ein wunderschönes Schloss mit großzügig angelegtem Schlosspark, eine Märchenfilm-reife Fachwerk-Altstadt und mindestens ein attraktiv ausgestattetes Museum, das Bomann-Museum für Kulturgeschichte. Hier konnten wir das niederdeutsche Bauernhaus noch einmal in Ruhe studieren. Bereits bei der Gründung des Museums wurde ein ganzes Hallenhaus ins Gebäude eingebaut. Im Gegensatz zum Wilseder Ole Hus, das auf schnellen Durchlauf von Touristengruppen eingestellt ist, erfährt man hier viele Details vom Leben in der Heide im Lauf der Jahrhunderte. Was gab es zu essen, welche Handwerksberufe gab es, wie war es um die Gesundheit der Bauern bestellt.


Nach dem Museum haben wir in der Altstadt so viele Fachwerkgiebel fotografiert, dass es Hannes schwindlig wurde. Wir saßen eine ganze Weile an einem Anlagenteich und schauten den Enten zu. Half nichts. Dann gingen wir in ein Straßencafé und versuchten es mit Kaffee und Kuchen. Half auch nichts. Ich hatte allerdings auf diese Gelegenheit gewartet, weil ich unbedingt noch die berühmte Celler Buchweizentorte mit Preiselbeersahne probieren wollte. Sie hat mir gut geschmeckt, allerdings hatte ich mir den Buchweizenboden etwas intensiver schmeckend, die Preiselbeersahne etwas fruchtiger vorgestellt. Vielleicht hatten wir nicht das beste Café erwischt. Ich werde diese Celler Spezialität wenn möglich noch einmal versuchen.
Hannes ging es immer noch nicht besser, und so gingen wir sehr langsam in Richtung Bahnhof. Ich machte mir allmählich wirklich Gedanken. Der Weg zurück kam mir dreimal so lang wie am Morgen vor. In der Bahnhofstraße entdeckte Hannes eine Dönerbude, sein Gesicht hellte sich auf: „Ich glaube, ich habe Fleischhunger.“ Er ging rein und kam mit einem Riesendöner mit Fleisch und viel rotem Krautsalat wieder raus. Bis wir zum Bahnhofsgebäude geschlendert waren, war der Patient kuriert.
Im Bahnhof holten wir unsere Rucksäcke aus der Bahnhofsmission ab und suchten uns eine Sitzgelegenheit im Warteraum. Neben einer jungen Dame war noch Platz frei. Wir nahmen unser Gepäck und setzten uns neben sie auf die Bank. Entrüstet schaute sie uns an: „Geht’s noch?“ Blaffte sie, stand auf und stolzierte mit hocherhobenem Kopf davon. Ja, bei uns ging es noch.



Mittwoch, 13. August 2014

Wein schafft Freunde: Beim Müdener Weinfest war es sehr lustig

Wein aus Müden (Müden)

Der nächste Tag bringt wieder eine lange Etappe bis nach Müden an der Oertze. Wir marschieren eher unmotiviert durch ehemaliges Militärgelände und langweilige Fichtenwälder. Hannes sehe ich heute die meiste Zeit von hinten. Ich kann mir schon kaum noch vorstellen, wie er ohne seinen roten Rucksack aussieht. In Müden angekommen ist die Überraschung groß: Gerade an diesem Tag wird hier der 797 Müdener Markt gefeiert. Ein Riesenrummel, das ganze Dorf ist auf den Beinen. Ursprung dieses Dorffests ist die Gründung der örtlichen Laurentius-Kirche mit Kirchweih im Jahr 1217, jedes Jahr am Mittwoch und Donnerstag nach dem 10. August wird seither gefeiert. Wir wollen natürlich auch hin. Müssen uns aber zuerst noch mit unseren Rucksäcken durch den ganzen Ort und das Marktgetümmel hindurchkämpfen, denn die Jugendherberge ist (mal wieder) ganz weit außerhalb und natürlich am anderen Ende des Ortes.

Der Markt bietet allerlei Besonderheiten. So gibt es hier nicht wie bei fast jedem andern Dorfrummel Bier in ordentlichen Halbliter-Krügen, nein, der Müdener bekommt sein Bier in putzigen Viertelliter-Krüglein ausgeschenkt. Entsprechend lang ist die Schlange vor den Schankstellen. Aber die meisten Männer wissen sich zu helfen und halten in jeder Hand eines dieser kleinen Gläser. Auch Hannes hat schnell dazu gelernt und kommt beim nächsten Bierholen mit zwei Gläsern zurück. Die Würste sind dafür gut doppelt so lang wie bei uns in Schwaben und ragen auf beiden Seiten weit über den Papptellerrand hinaus. Dazu bekommt man dann keinen Wecken, sondern eine bescheidene halbe Scheibe Toastbrot. Meistens hat man ja nach der Wurst noch einen trockenen halben Wecken übrig, hier wünschte man sich noch etwas Brot aus Gründen der Bekömmlichkeit.

In der Weinlaube wird Müdener Wein ausgeschenkt. Wir sind verblüfft. Wir wussten gar nicht, dass so weit im Norden Deutschlands noch Wein angebaut wird. Zum Glück schafft Wein schnell Freunde und wir kommen bei einer Flasche Spätburgunder mit Alt- und Neumüdenern ins Gespräch und werden aufgeklärt. Ja, der Wein stammt tatsächlich aus Müden. Aber, nein, nicht von hier, sondern vom Müdener Funkenberg an der Mosel. Jedes Jahr kommen Gäste aus diesem anderen Müden zum Laurentiusmarkt, schenken hier Wein aus und feiern kräftig mit. Der Wein war süffig, ein Glück, dass er nicht aus Müden an der Oertze stammte.

Dienstag, 12. August 2014

Mais, Mais, Mais

Wölfe und ein Brauhaus in einer Reithalle (Soltau)

Die nächsten Tage brachten für unsere Paarbeziehung weitere Challences. Niedersachsen bot sich uns in seiner gesamten Niedersachsenhaftigkeit: Mais, Mais, Mais. Außerdem durchquerten wir ehemalige militärische Sperrgebiete und weitläufige Fichtenschonungen. Eine Art Verschnitt zwischen einem Roadmovie aus dem Mittleren Westen mit Einsprengseln von „So weit die Füße tragen“. Unsere glühten. Froh waren wir, wenn wir eine der raren Rastbänke entdeckten. Hannes lobte unseren Schwäbischen Albverein. „Die sind nicht so geizig mit Bänken. Auf unseren Wanderwegen gibt es viel mehr und besser ausgestattete Rastplätze.“ Der erste Griff ging automatisch an die Schnürung unserer Stiefel. Nur runter mit den schweren Dingern, Luft an unsere armen Fußsohlen.

Wie wir so auf einer Bank sitzen und unsere Knöchel massieren, kommt mit zügigem Schritt ein junger Wanderer heran. Erst halten wir ihn für den Wanderprediger, mit dem wir beim Frühstück in Bispingen noch länger gesprochen, jetzt aber schon seit Stunden nicht mehr getroffen haben. Der junge Mann ist zwar am Morgen eine Zeit lang mit ihm gewandert, hat ihn aber auch schon lang nicht mehr gesehen. Dafür kann er neues Aufregendes berichten: Es gibt Wölfe hier im Wald. Mindestens ein oder zwei Rudel sollen sich hier in der Gegend aufhalten. Wir sind plötzlich hellwach. Gesehen haben wir leider keine, nicht mal ein leises Heulen aus der Ferne war zu hören.



Von Bispingen bis Soltau waren es nur 20 Wanderkilometer, wir planten deshalb einen Abstecher mit dem Zug nach Lüneburg und dort ins Salzmuseum. Daraus wurde leider nichts. Es gab keine passende Zugverbindung. Wir schlenderten stattdessen etwas unmotiviert durch das wirtschaftliche Zentrum des Heidekreises. Die Hauptstraße war eine lange Reihe von Spielhallen, Trinkhallen, Orthopädiegeschäften und Ärzten. Ein heftiges Gewitter lassen wir über uns ergehen und suchen anschließend das im Stadtprospekt angepriesene Brauhaus Joh. Albrecht im prächtigen Gebäude der ehemaligen kaiserlichen Reitschule. Das herrschaftliche Anwesen liegt etwas außerhalb, aber der Weg lohnt sich. Wir testen eine der sommerlichen Bierspezialitäten - ein fruchtiger Mix aus Weizen und Pils. Bleiben aber schließlich bei Bewährtem: ein Hefeweizen und ein großes Pils! In dem wunderschönen Biergarten sind wir fast die einzigen Gäste. Wir bleiben unter den alten Kastanienbäumen sitzen, bis es uns zu kühl wird. Dann gehen wir rein. Auch Innen ist das Brauhaus geschmackvoll-rustikal eingerichtet. Mit Blick auf glänzende Kupferkesse trinken wir noch ein letztes Bier und knabbern dazu geröstete Weizenkörner. Eine ziemlich harte und salzige Angelegenheit – macht Durst auf kühles Bier, was wohl der Sinn der Sache ist.

Zu guter Letzt machen wir uns doch auf den Weg in unser Hotel Utspan. Die Gaststube ist noch besetzt und die Szenerie so kurios, dass wir spontan beschließen, noch einen Absacker zu nehmen – nur um zu kucken und große Ohren zu machen. Am Tresen kämpft die Besitzerin mit ihrer computerunterstützten Abrechnung, ein untersetzter Geschäftsreisender gibt kluge Ratschläge dazu. Im hinteren Bereich des Gastraums sitzt der Soltauer Altherrenstammtisch beim Skat. Der Rollator steht griffbereit daneben. Am Tisch neben uns ein älteres Ehepaar hat sich offenbar nicht mehr allzu viel zu sagen. Die beiden sitzen nebeneinander wie Spatzen auf dem Draht, jeder ein Glas Pils vor sich, die Augen geradeaus. Gespannt beobachten wir die beiden, aber sie bleiben konsequent und sprechen während der gesamten Zeit kein Wort miteinander. Wir geben als erste auf und landen in unserem Zimmer – in einem schwarzen Lederbett, so groß und ausladend, dass Hannes ganz verloren darin wirkt.

Montag, 11. August 2014

Grillplatte "Hermann Löns"

Zimmer mit Strafenregister (Bispingen)


Bevor wir Bispingen erreichten, kam es trotz Geburtstag und vorangegangener kultureller Bereicherung erstmalig auf unserer Tour zu einer kritischen Phase in der Paarbeziehung. Schuld war der Sandweg, beziehungsweise ein fehlender (!) Wegweiser, der uns rechtzeitig hätte abbiegen lassen.
Erst war alles sehr schön. Wir wanderten durch einen Reiterhof und dann immer geradeaus an den Pferdekoppeln entlang. Mehrere Kinder bekamen dort gerade Reitunterricht und winkten uns fröhlich zu. Der Weg war anfangs noch ganz ordentlich befestigt, verwandelte sich aber immer mehr in einen Sandweg. Bald hatten wir das Gefühl, im Treibsand zu waten. Die Sonne brannte, es ging immer geradeaus. Das Stapfen im Sand war schrecklich ermüdend. Hannes blieb immer öfter stehen und starrte sorgenvoll auf seinen Garmin. Ich pflügte ungerührt weiter. Plötzlich gab Hannes die fatale Information: Wir sind falsch, wir hätten schon längst links abbiegen müssen. Ich ignorierte diese Meldung. Jetzt umdrehen, nach diesen Strapazen, kam nicht in Frage. Wir begannen zu diskutieren. Hannes wollte zurück, ich konnte ganz deutlich am Ende des Sandwegs in weiter Ferne einen neuen Weg entdecken, der auch nach links abbog. Hannes bestritt dies. Wir marschierten schweigend weiter. Nochmals eine gute Viertelstunde. Der Waldrand kam näher. Aber kein Weg. Nicht einmal ein kleiner Trampelpfad. Das Ende der Welt schien erreicht. Hannes verdrehte die Augen, ich hätte am liebsten losgeheult. Wir drehten um. Nach 15 Minuten erreichten wir die Stelle, an der Hannes umdrehen wollte. Nach weiteren 20 bis 25 Minuten einen schmalen Abzweig nach links, den wir davor komplett übersehen hatten. Wir bogen ein und durchqueren ein Feld. Wenigstens kein Treibsand mehr. Am Rand dieses Feldes stießen wir wieder auf einen gut befestigten Weg und endlich auch wieder auf einen E1 Wegweiser. Auch der Garmin signalisierte: Wir sind wieder auf dem Track. Wäre mal auf der anderen Seite des Feldes auch ein Wegweiser gewesen, wir hätten uns fast eine Stunde mühsames Stapfen und eine kleine Zwischeneiszeit in unserer Paarbeziehung erspart.


In Bispingen feierten wir Hannes’ 53. Geburtstag mit einer opulenten Grillplatte „Hermann Löns“ im Restaurant „De ole Döns“(Die gute Stube) mitten im Ortszentrum von Bispingen. Der touristisch aufgeblähte Name des Gerichts ließ uns zuerst zögern, aber zu unrecht. Heidschnuckensteak, Heidschnuckenlende, Heidschnuckenwürste. Wir ausgehungerte E1 Wanderer fühlten uns wie im Schlaraffenland. Hier gab es Fleisch satt. Manchmal können einem die Vegetarier schon Leid tun. Das Fleisch dieser Heideschafe ist wunderbar zart und saftig und wir bildeten uns ein, die wilden Heidekräuter noch im gebratenen Zustand herauszuschmecken.

Hannes war glücklich. Schon zu Hause hatte er davon geschwärmt, dass er in der Lüneburger Heide unbedingt Heidschnuckenbraten essen wolle. Diese genügsamen Tiere werden schon sehr lange in den Heide- und Moorlandschaften gehalten und gehören zu den ältesten Schafrassen in Mitteleuropa. Früher waren sie wegen der kargen Kost sehr leicht, nur etwa 25 Kilo schwer. Heute ist das meist nicht mehr so, denn die Tiere werden in der Regel nicht mehr allein im Ödland gehalten. Ich habe gelesen, dass Heidschnucken, die auf einer Weide aufgewachsen sind, verhungern würden, wenn man sie plötzlich nur noch im Ödland halten würde und sie nur noch wilde Heide-und Moorpflanzen finden würden. So ähnlich ginge es uns wohl auch, wenn wir von einem Tag auf den andern wieder zu Jägern und Sammlern würden.

Strafenkatalog für jugendliche Übeltäter

Das war aber nicht das Beste an Bispingen. Das Beste war eindeutig das Jugendherbergs interne Strafenregister samt Strafgebühren, das dort in allen Zimmer sorgfältig laminiert auslag: Bett angekokelt, 50 Euro, Schrank angebrannt, 50 Euro, Türen verschmiert, 40 Euro, Wasserhahn herausgerissen, 100 Euro, Bilderrahmen entwendet, 24 Euro., Steckdose kaputt/herausgerissen, 10 Euro… Immer so weiter, fast 30 Vergehen waren aufgelistet. Mein Gott, was musste dieser arme Herbergsvater alles erlebt haben.


Sonntag, 10. August 2014

Die Heide blüht

Lüneburger Heide: (Von Inzmühlen nach Bispingen)

Von nun an sind wir im Postkartenmilieu. Lauter bekannte Namen: Handeloh, Inzmühlen, Undeloh, Wilsede. Wir sind in der Lüneburger Heide, jetzt im August ist die Touristendichte hoch. Altersdurchschnitt mindestens 60+. Allerorten kann man Kutsche fahren, Kuchen essen und Heideschnäpschen trinken. Schön ist es trotzdem. Wir wandern über die höchste Erhebung der Lüneburger Heide, den Wilseder Berg mit satten 169 Höhenmetern. Von dort ist es nur noch ein Katzensprung bis in den Ort Wilsede.

Auch hier im Museumsdorf sind wir erwartungsgemäß nicht allein. Wir nehmen uns trotzdem viel Zeit und schauen die uns fremde Bauweise und Ausstattung der historischen Niedersachsenhäuser an. Zwei Abende zuvor, im lauschigen Garten unserer Pension in Buchholz-Dibbersen, hatte ich zufällig einen älteren Bildband über Bauernhaustypen in Deutschland durchgeblättert. Spannend, wie viele Antworten auf die gleichen, und doch ganz unterschiedlichen Herausforderungen es doch gibt. Im Grund ging es immer um dasselbe: Wie können Menschen, Vieh und Ernte vor Wetter und Begehrlichkeiten anderer Menschen optimal geschützt und dabei die örtlichen Gegebenheiten bestmöglich ausgenützt werden. Von Oberbayern über Schwarzwald, Franken bis nach Niedersachsen: Beinahe jede größere Region hat ihren eigenen Haustyp entwickelt.


Im Museumsdorf Wilsede


Durch die Lektüre bin ich schon gut vorbereitet und weiß in etwa, was mich in dem gewaltigen Reed gedeckten Museumsgebäude „Dat ole Huus“ erwartet. Ein riesiges Hallenhaus, erst kommt der Stallbereich und Scheunenbereich, dann weiter Innen eine Art Küchenbereich mit Essplätzen, getrennt nach Herrschaft und Gesinde. Alles ist zum Stall hin offen. Der „Herd“ ist eine offene Feuerstelle. Nur ganz im Hintergrund gibt es zwei Türen, die zu den abgetrennten Kammern der Bauern führen. Eine Stube mit Bett für die Alten, eine für die Jungbauern. Aus Gründen des Brandschutzes, vor allem aber auch aus hygienischen Gründen wurde diese Bauweise mit Beginn der Neuzeit zunehmend durch Häuser mit getrennten Wohn- und Stallbereichen abgelöst.
Von Wilsede aus führt der Weg noch eine ganze Weile durch die Heide, vorbei am wunderschönen Naturschutzgebiet Am Totengrund. Dann wieder in bewohntes Gebiet und schließlich unter der A7 hindurch nach Bispingen.

Samstag, 9. August 2014

Windmühle Dibbersen

Ein feiner Kerl (Dibbersen)

Unser zweites Etappenziel Dibbersen-Buchholz erkannten wir schon von Weitem an der mächtigen, schön renovierten Windmühle. Wie viele dieser alten Mühlen wurde auch diese mit Unterstützung eines Vereins renoviert und kann heute für Veranstaltungen aller Art genutzt werden. Bei unserem kleinen Rundgang um das Kulturdenkmal wäre Hannes fast unter die Räder gekommen. „Vorsicht, gehen Sie zur Seite!“, warnte laut ein näherkommender Radfahrer. Im letzten Moment entdeckte Hannes das direkt auf ihn zurasende Seniorenmobil und rettete sich mit einem Sprung ins Gras. Der hochbetagte Fahrer fuhr ohne Reaktion weiter. Der Radfahrer, sein ihn begleitender Schwiegersohn, wie sich herausstellte, entschuldigte sich vielmals. Der alte Herr würde jeden Abend diese Runde mit seinem Elektrowagen machen und sei es nicht gewöhnt, dass hier Menschen auf dem Radweg stünden. Er sei einfach nicht mehr flexibel genug, von seinem üblichen Weg abzuweichen. Er würde deshalb regelmäßig hier die Rosen etwas zurückschneiden und begleite „den Oppa deshalb immer mit dem Rad“, um aufzupassen. Bloß, den Hügel hinauf sei der Oppa immer so schnell…

Übernachtet haben wir in Dibbersen in einer Privatpension. Wir nannten sie das Vogelhaus, denn die Gästezimmer hatten alle Vogelnamen und waren mit passenden Schildchen an den Zimmertüren gekennzeichnet. Es dauerte sehr lange, bis auf unser Klingeln geöffnet wurde. Nachdem wir die Zimmer bezogen hatten, baten wir um eine Flasche Wein, die wir gemütlich im Garten trinken wollten. Wieder dauerte es eine gefühlte Ewigkeit, bis unsere Wirtin mit der Flasche erschien. Hannes nörgelte: „Dieses Haus muss ja einen riesigen Keller haben.“

Frühstück gab es in der Diele. Wir saßen artig mit mehreren älteren Pensionsgästen an kleinen, ordentlich gedeckten Tischchen. Es gab frische Brötchen, Wurst, Käse, Marmelade, Ei – was das Herz begehrte. Was Hannes weniger gefiel, war der große Jagdhund, der offensichtlich zum Sohn unserer Wirtin gehörte und immer mal wieder aus der Küche heraus kaum und durch die Diele spazierte. Damals hatte Hannes noch großen Respekt vor Hunden und konnte sich deshalb nicht so recht auf seinen Teller konzentrieren. Plötzlich war der Bann gebrochen: Der große Hund kam aus der Küche, im Maul ein kariertes Geschirrtuch, das ihm rechts und links aus den Lefzen hing. Die gesamte Frühstücksrunde brach in schallendes Gelächter aus und Herrchen kam aus der Küche: „Ja, unser Hund ist wirklich ein feiner Kerl.“ Hoffen wir, dass er nicht beim Geschirrabtrocknen geholfen hat.

Später fädelten wir uns eine gefühlte Ewigkeit durch die Buchholzer Wohn- und Industriegebiete. Einzig interessante Zufallsentdeckung: das Hotel Hoheluft in Buchholz-Meilsen. In diesem heute unauffälligen Gasthaus, so lesen wir auf einer Messingtafel am Eingang, fanden im April 1945 die Kapitulationsverhandlungen zwischen Briten und Vertretern Nazi-Deutschlands statt, die Hamburg vor der vermutlich vollständigen Zerstörung bewahrten. Dann kommen wir zum Glück doch irgendwann aus dieser Stadt raus und in den Wald und dann wieder in die Heide.

Freitag, 8. August 2014

Hase und Igel und die Frage nach dem richtigen Equipment (Von Ovelgönne nach Dibbersen)

Am nächsten Morgen regnete es wie aus Kübeln. Ich wollte unbedingt nach Buxtehude, wenn wir schon mal in der Nähe waren. Allerdings lag dies nicht in unserer Richtung, sondern von Ovelgönne aus etwa 6-7 Kilometer im Westen. Solch ein Umweg zu Fuß kam natürlich nicht in Frage, aber es gibt ja Öffis. Hannes war einverstanden, weil unsere Etappe an diesem Tag nicht zu lang war. Wir hatten uns von Hamburg aus nicht an die in unserer E1 Bibel (Arthur Krause) vorgesehene Etappeneinteilung gehalten, sondern waren an der Jugendherberge Am Stintfang eingestiegen. Das Stück von dort bis zum vorgesehenen Tagesziel Blankenese war nur 11 Kilometer lang, wir hatten also noch einen Teil der nächsten Etappe dranhängen können und am folgenden Tag daher deutlich weniger als die angegebenen 36 Kilometer zu laufen.

Die von Krause vorgeschlagenen Etappen sind manchmal gehörig lang. 36 Kilometer am Stück war für uns beide so ziemlich das Limit. Solche Strecken haben wir zwar manchmal auch geschafft, aber wirklich Spaß gemacht hat das nicht. Natürlich muss sich die Streckenplanung an den örtlichen Gegebenheiten, vor allem an der Infrastruktur in Form von Gasthäusern, Jugendherbergen oder Pensionen orientieren. Im Großen und Ganzen halten wir uns auch daran. Selten haben wir allerdings zwischendurch ein Stück mit Bus oder Taxi „abgekürzt“. Was wir nie gemacht, von anderen Wanderern aber häufig gelesen haben: Einen Standort gewählt und von dort aus zwei oder drei Etappen gelaufen und mit dem Taxi immer wieder zum Ausgangspunkt zurück. Das hätte uns irgendwie das Gefühl genommen, unterwegs zu sein. Am angenehmsten sind für uns Tagesetappen von etwa 25 Kilometern. Das ist entspannt zu schaffen und man kommt dennoch voran. Und bei Bedarf hat man genügend Zeit und Muße, unterwegs etwas anzuschauen.

Der sonderbare Ortsname Buxtehude hatte mich schon als Kind fasziniert. Wie konnte eine Stadt bloß solch einen Namen haben? Was es dort wohl sonst noch für Merkwürdigkeiten gab? Keine Ahnung, woher ich von dieser Stadt gehört hatte. Vermutlich aus dem Märchen vom Wettlauf zwischen Hase und Igel, der sich in der Buxtehuder Heide abgespielt haben soll. Die Geschichte fand ich auch klasse. Das unsportliche aber clevere Igelpaar, das den athletischen und eingebildeten Hasen zum Narren hält. Da sieht man’s doch: Geist geht vor Power! Bin schon da.
Wir nahmen den Bus. In Buxtehude angekommen, stellten wir fest, dass es immer noch regnete und die Stadt insgesamt nicht so ungewöhnlich oder gar märchenhaft ist. Dafür hat sie einen originellen Werbeslogan: Buxtehude – schlau, wer schon da ist. Hase und Igel haben wir auch getroffen. Sie stehen in der Fußgängerzone, der Hase in fliegendem Lauf, die beiden Igel satt grinsend in Metall gebannt.
Das Stück von Buxtehude zurück zum Track bei Neugraben-Fischbek machten wir mit dem Zug. Von dort aus ging es dann in die Fischbeker Heide und zwar zunächst auf dem vor einigen Jahren eingerichteten Heidschnuckenweg. Der Weg führt von Hamburg-Fischbek wenn möglich durch naturbelassene Wald- und Heidelandschaften über 223 Kilometer bis nach Celle. Er wurde als Premium-Wanderweg zertifiziert und 2014 zum schönsten Wanderweg Deutschlands gekürt. Der E1 verläuft über große Strecken parallel zum Heidschnuckenweg, spart allerdings etliche Schleifen zu besonderen Sehenswürdigkeiten aus.
Man kann über diese neuen Top-Trails of Germany denken wie man will. (Unter anderem gehören dazu Rothaar-Steig, Westweg, Alb-Steig, Hermansshöhen, Rheinsteig u.a.) Geworben wird mit dem Versprechen, Deutschlands schönste Gegenden professionell zu erschließen und dabei Verlaufen dank hervorragender Ausschildung „unmöglich“ zu machen. Klar geht es auch hier ums Geschäft. Aber auch um sanften Tourismus, um Verständnis für Natur und Umwelt und die Liebe zu einer Landschaft, die uns umgibt und für deren Entdeckung wir nicht erst 5 Flugstunden hinter uns bringen müssen. Ich kann nichts Verwerflichen an dem Versuch finden, durch Wandergäste etwas wirtschaftlichen Aufschwung in strukturschwache Regionen zu bringen. Die Infotafeln am Wegesrand haben mich viele Besonderheiten entdecken lassen, an denen ich sonst vielleicht vorbeimarschiert wäre. Wer nicht belehrt werden will, muss sie ja nicht lesen.
Beginn des Heidschnuckenwegs

Der Heidschnuckenweg ist der nördlichste Top-Trail of Germany. Für mich war es die erste Begegnung mit der norddeutschen Heidelandschaft. Ich fand’s wunderschön. Das Hineintauchen war abrupt und überwältigend. Eigentlich ging es bloß aus dem Wohngebiet über die Straße, über einen Parkplatz und mitten hinein in die Fischbeker Heide. Wir hatten den perfekten Zeitpunkt erwischt. Die Heide war überall am Blühen. Es sah genauso aus, wie auf dem großen Bild mit dem dicken Goldrahmen, das bei meinen Großeltern früher über dem Klavier hing: Ein Sandweg, rechts und links Birken, und der Boden mit rosa blühendem Heidekraut bedeckt, soweit das Auge reicht. Das Bild hatte für mich immer einen unechten und kitschigen Touch gehabt. In der Familie nannten wir es „den Wiederfinder“, weil jemand mal behauptet hatte, er könne sich in dem Motiv gut wiederfinden. In der Natur war nichts kitschig. Wir waren noch kaum vom S-Bahnhof Neugraben-Fischbek entfernt, und doch schon in einer andern Welt. Wir wanderten, nein, wir schritten in sanftem Auf- und Ab über die Wald- und Heidewege.

Hannes blieb immer öfter zurück. Ich dachte mir erst nichts dabei. Wahrscheinlich hat er mitten in der Heide mal wieder kein Netz… Als klar war, dass wir gemeinsam auf Tour gehen würden, hatte mein Schatz sich erst mal wandertechnisch auf den neuesten Stand gebracht und einen Garmin E-Trex gekauft. Dieses Gerät hat uns bei unseren Wanderungen auf dem E1 und auf vielen anderen Wegen gute Dienste geleistet. Es erspart es uns, einen Packen an Kartenmaterial mitzuschleppen und reduziert die Möglichkeit, sich zu verlaufen, auf ein Minimum. Ganz zu schweigen von dem Spaß, den wir regelmäßig haben, wenn wir abends unsere Tourdaten auswerten können. Da weiß man wenigstens, wofür man den ganzen Tag gelaufen ist, wenn man seine Bilanz an Streckenkilometern und Höhenmetern genüsslich beim Feierabendbier studieren kann. Aber damit diese Bilanz dann auch stimmt, braucht der Garmin natürlich unterwegs verlässlich Kontakt mit seinem Satelliten. Fällt die aus, endet die Aufzeichnung und wir laufen quasi umsonst. Streckenwanderers Supergau! Es gehört zu Hannes‘ Aufgaben, das störungsfreie Funktionieren unseres Garmin regelmäßig zu überprüfen. Dazu hat er die kleine Box auf Brusthöhe mit einem Klettverschluss am Rucksackträger festgeschnallt. Ein Griff, und er hat sie in der Hand. Der zischende Ritsch gehört für mich mittlerweile zu den vertrautesten Geräuschen unterwegs.

Aber wie gesagt, das Netz hat mitunter Löcher und immer wieder höre ich meinen Liebsten fluchen, der „Drecksgarmin“ finde mal wieder keinen Satelliten. Zum Glück habe ich für diese Fälle grundsätzlich meinen kleinen Tageskilomterzähler mit simplem Schrittzähler dabei. Falls also unser High-tech-Gerät ausfällt, haben wir immer noch unser Minigerät aus der Wandersteinzeit zur Kontrolle. Mit zwei Geräten haben wir auf öden Streckenabschnitten auch die kleine Ablenkung, dass wir unsere Kilometerstände vergleichen und über die Zuverlässigkeit und korrekte Einstellung der Instrumente diskutieren können. Auf den bolzengeraden Teerwegen entlang der niedersächsischen Maisfelder waren wir geradezu dankbar für diese Möglichkeit.



In der Fischbeker Heide war aber nicht der Garmin an Hannes‘ Zurückbleiben Schuld. Zumindest nicht nur. Mein Liebster hatte Fußprobleme. Wir hatten gelesen, dass für Weitwanderungen richtig feste Wanderstiefel, am besten Bergstiefel am besten geeignet seien. Also hatte sich Hannes für unsere Tour durch Niedersachsen ein paar neue Lowa Bergstiefel gegönnt. Länge und Passform waren ideal. Dummerweise hatte er aber nicht daran gedacht, die vom Werk vorgegebene Weiteneinstellung am Vorderfuß seiner Fußform anzupassen. Und so litt mein armer Schatz immer größere Schmerzen, je mehr seine Füße im Lauf des Tages von der Hitze aufquollen. Des Rätsels Lösung, die Schnürung komplett zu öffnen und deutlich lockerer einzufädeln, ist ihm leider erst nach unserer Tour wieder zu Hause eingefallen.

Wie beschwingt es sich ohne eingeklemmte Fußnerven wandert, erlebten wir an einem Schweizer E1-Wanderer. Dieser Eidgenosse war barfuß in Wandersandalen unterwegs und trug bei regnerischer Witterung einen fast knöchellangen roten „Überwurf“. Wir nannten ihn deshalb „der Wanderprediger“. Er war für ein paar Tage unserer Mitwanderer und übernachtete wie wir in der Jugendherberge Bispingen. Er hatte sich eine Auszeit von zwei Monaten genommen und wollte in dieser Zeit so weit wie möglich Richtung Süden kommen. Wenn möglich, bis in die Schweiz. Wir hätten gern erfahren, ob er es geschafft hat. Der Mann war etwa in unserem Alter und allein unterwegs. Sein Wandertempo war extrem langsam, wir hatten ihn morgens immer recht bald eingeholt, obwohl er vor uns losmarschiert ist. Allerdings hat er dieses Tempo den ganzen Tag konstant beibehalten und kaum Pausen gemacht, so dass er gegen Ende des Tages dann wieder an uns vorbeigezogen ist. Auf meine Frage, ob es denn auf Dauer für die Gelenke nicht anstrengend sei, nur in Sandalen zu wandern, meinte er: „Mir ist das wöhler so.“ Er sei auch in den Bergen so unterwegs.

Von den Bergstiefeln sind wir später auch abgekommen. Wenn wir wissen, dass wir vorwiegend auf guten Wegen unterwegs sind und keine steilen Abstiege zu bewältigen haben, nehmen wir fast nur noch unsere Leichtwanderschuhe bzw. Leichtwanderstiefel. Man hat zwar etwas weniger Halt, dafür tut man sich auf langen ebenen Strecken deutlich leichter.

Donnerstag, 7. August 2014

Von Norden nach Süden

Etappe: Hamburg – Neugraben-Fischbeck (Ovelgönne) – Bucholz – Inzmühlen – Bispingen – Soltau – Müden – Celle (7. – 15. August 2014)

An der Elbe bei Hamburg




Phantom der Oper und Queen Mary (Von Hamburg nach Ovelgönne)

Was haben das Phantom der Oper und der Luxusdampfer Queen Mary II mit unserer Tour auf dem E1 zu tun? Richtig, sie stehen beide ganz am Anfang unserer ersten richtigen gemeinsamen Nord-Süd-Etappe. Genauer gesagt, sie kommen noch davor.

Hannes, mein damals noch neuer Lebensgefährte, hatte nämlich die Idee, seine Liebste, also mich, einmal so richtig fein in ein Musical auszuführen. Am liebsten ins Phantom der Oper. Das hatte ihn am meisten begeistert. Und da er mehr Pragmatiker als Romantiker ist, schlug er vor, dies könne man doch geradezu perfekt mit dem Start unserer ersten Etappe auf dem E1 verbinden. Die anstehende Etappe sollte in Hamburg beginnen, das Phantom der Oper wird in Hamburg gespielt. Also, was liegt näher… Wir buchten eine zeitlich passende Aufführung plus Flug von Stuttgart nach Hamburg Anfang August 2014. Alles nur eine Sache der Planung.

Nur mit dem „fein Ausführen“ wurde es nichts. Wir konnten ja schlecht unsere Abendgarderobe noch zu dem ganzen Wandergepäck in unsere Rucksäcke stopfen. Erfahrene Wanderer wissen, wie wichtig es ist, das Gewicht des Rucksacks möglichst gering zu halten. Bei meiner ersten mehrtägigen Wanderung hatte ich noch unbedacht Waschbeutel, reichlich Toilettenutensilien und Wechselkleidung eingepackt. Am ersten Abend haben mir Schultern und Nacken derart wehgetan, dass ich unbarmherzig ausgepackt und im Papierkorb versenkt habe. Kurz hatte ich sogar erwogen, den Stiel der Haarbürste abzubrechen… Diesen Fehler wollten wir kein zweites Mal machen. Und so marschierten wir in Wandersandalen und Wanderhosen zum Musicalgebäude und schlenderten im Outdoorlook zwischen Herren in dunklen Jacketts und Damen in langen oder ganz kurzen Röcken im eleganten Foyer umher. Zu Hause war mir diese Vorstellung peinlich gewesen. Wahrscheinlich ist es aber keinem aufgefallen oder war den andern egal. Auf mich wirkte das Fein-Getue im Musical Palast ohnehin eher lächerlich. Als wir vor Beginn der Vorstellung noch einen Kaffee bestellten, wurden uns die Getränke von einer jungen Dame in Phantasieuniform mit huldvollem Lächeln und der Bemerkung gereicht: „Genießen Sie es!“ Hannes verdrehte bloß die Augen.

Wirklich genossen haben wir den Tagesausklang auf der hauseigenen Terrasse der Hamburger Jugendherberge Auf dem Stintfang. Hoch über den Landungsbrücken, ein Glas Wein aus dem Bistro in der Hand! Um uns eine Menge zumeist junge Leute und Familien. Was irritierte, war die plötzlich aufkommende Unruhe. Kinder kletterten auf die Bänke, Ferngläser wurden hervorgeholt. Ein etwa zehnjähriger Junge klärte uns auf: In wenigen Minuten wird sie auslaufen. Queen Mary II, der Luxusliner schlechthin. Er und sein Halbbruder würden schon den ganzen Abend darauf warten. Und richtig, zuerst kamen die Beiboote, dann tauchte langsam die hellerleuchtete schwimmende Riesenburg auf. Überall an der Reeling winkende Fahrgäste, Rufen, Gelächter. Die Kinder um uns gerieten ganz aus dem Häuschen, ihre Eltern fotografierten was das Zeug hielt. Beinahe hätten wir selbst auf eine gute Fahrt angestoßen.

Diese Jugendherberge ist der ideale Ausgangspunkt für die Etappe Hamburg-Nordheide-Südheide. Der E1 läuft direkt neben dem Haus vorbei, Anbindung an S-Bahn und Flughafen sind perfekt. Am nächsten Morgen war strahlendes Wetter, der Track führt immer parallel zum Elbufer bis nach Blankenese. Wir Landeier staunen. Riesige Containeranlagen, Kranen, Lotsenschiffe, Kreuzfahrtterminal, Fischlokale. Und immer wieder Radler, Gassigeher, Moin, Moin klang es uns entgegen. An einem kleinen Strandabschnitt treffen wir den Alten Schweden. Vor gut zehntausend Jahren kam der riesige graue Granitfindling mit den eiszeitlichen Gletschern hier her. Kurz vor der Jahrtausendwende wurde er bei Vertiefungsarbeiten aus der Fahrrinne der Elbe gebaggert. Ich mache ein paar Fotos für meinen Sohn. „Alter Schwede“ war damals eines seiner geflügelten Worte. An so einen dicken Brocken hat er bestimmt nicht gedacht.

Von Blankenese geht es mit der Fähre über die Elbe und durch das Naturschutzgebiet Mühlenberger Loch bis nach Cranz, dort noch über die Cranzer Rollbrücke und hinein ins Alte Land. Erst geht es immer am Deich entlang, was mit der Zeit arg nervt. Kaum ist man ein Stückchen marschiert, geht es vom Deich runter, über eine Straße und auf der andern Seite wieder den Deich hinauf. Nach zweihundert Meter das nächste Mal und immer so weiter. Wir überlegen, wie viele Höhenmeter da wohl zusammen kommen?

Endlich geht es vom Deich ab und ins Apfelland hinein. Es ist schwülheiß, wir sind am Verdursten, aber kein Laden in Sicht. Nach einer kleinen Ewigkeit kommen wir zum Neuenfelder Markt, ein türkischer Supermarkt der dortigen Islamischen Gemeinde, zugehörig zur Neuenfelder Moschee Klein Istanbul. Vor dem eingeschossigen Backsteingebäude sitzen Männer auf Gartenstühlen aus Plastik, trinken Tee und essen. Frauen oder Mädchen sind nirgends zu sehen. Es riecht verdammt lecker. Ich habe fürchterlichen Durst, will unbedingt in den Laden und etwas zu trinken kaufen. Hannes ist skeptisch, will lieber weiterlaufen. Vielleicht kommt noch ein anderes Geschäft. Die frauenlose, orientalisch anmutende Szene bereitet ihm Unbehagen. Mir geht es auch ein bisschen so, aber der Durst ist stärker: „Ich geh‘ rein und kauf‘ Wasser!“ Natürlich kann Hannes mich da nicht allein reinlassen und so gehen wir gemeinsam und kaufen 2 Flaschen Wasser und eine Tüte mit Trauben. Als wir rauskommen, werden wir schon erwartet. Die Männer rufen uns an einen Tisch und bieten das unverschämt lecker riechende Essen an. Gözleme, von ihren Frauen selbst gemacht. Wir sollen unbedingt probieren. Bestes Gözleme der Welt! Nur ein Euro das Stück. Wie blöd, dass ich zuvor schon gegessen habe. Aber Hannes probiert und ist begeistert. Als Wegzehrung lässt er sich noch eine weitere Portion sorgfältig in Alufolie verpackt mitgeben.

Den Rest des Tages ging es gefühlt nur noch geradeaus. Zuerst auf einem endlos langen, staubigen Feldweg, vorbei an Mücken umschwirrten Tümpeln und muffigen Wassergräben, schließlich durch ein Moorgebiet. Meine Fußsohlen glühen. Um mir ein kleines bisschen Entlastung zu verschaffen, versuche ich wenn möglich, mit einem Fuß auf dem Seitenstreifen auf Gras zu treten. In Neugraben-Fischbek wäre eigentlich Ende der heutigen Etappe gewesen. Aber da wir hier von Zuhause aus keine Unterkunft gefunden hatten, setzen wir nochmal 7 Kilometer drauf und wandern entlang der Hauptstraße Richtung Buxtehude bis nach Ovelgönne zum Ovelgönner Hof. Mein subjektiver Tagestiefpunkt ist erreicht. Hannes spricht auch nicht mehr. Hat das nun eine Bedeutung für die Paarbeziehung? Keine Ahnung. Wir trotten nur noch hintereinander her. Mit dem Taxi wären wir zwar bequemer, allerdings auch nicht schneller vorangekommen. Denn der Verkehr auf diesem Abschnitt der Cuxhavener Straße steht wegen einer Großbaustelle. So haben wir das zweifelhafte Vergnügen, an den im Stop and Go steckenden Autos zwar mit schmerzenden Füßen und allmählich steif werdenden Muskeln, aber dennoch vorbei zu gehen.

Der Ovelgönner Hof ist ein geschmackvoll eingerichteter Traditionsgasthof mit einem verlockenden Angebot an regionalen Gerichten und spanischen Tapas Leckereien. Leider hieß es an diesem Tag wegen einer Hochzeitsfeier „Geschlossene Gesellschaft“. Hätte es schlimmer kommen können? Im Prinzip schon, denn gleich nebenan gibt es die „Grillstation“ – ein Fernfahrerimbiss mit deftiger Inhaberin, die zwar lecker Bratkartoffeln und Bouletten braten, sich mit Charme und Dienstleitung aber durchaus zurückhalten konnte. Egal, wir holten unser Bier einfach selbst aus dem Kühlschrank. Dafür meckerte uns auch niemand an, als wir unsere schmerzenden Beine gemütlich auf die freien Sitzgelegenheiten legten. Hannes war restlos mit dem Tag versöhnt, als er die Riesenportion Bratkartoffeln zusammen mit dem Holzfällersteak auf seinem Teller liegen sah.