Montag, 5. Oktober 2015


"Der Hasen und der Löffel drei, und doch hat jeder Hase zwei."

In Westfalens katholischem Herzen


Wie viele Kirchen gibt es in Paderborn? Wir haben es auf die Schnelle nicht herausfinden können. Aber spontan würde ich sagen, es sind zu viele. Wir haben uns für diese Stadt einen ganzen Tag Zeit genommen, aber irgendwie fällt es uns schwer, uns zu beschäftigen. Der erste Weg am Morgen führt uns – wie kann es hier anders sein – von der Jugendherberge ins Zentrum und damit zum Dom. Zuerst kommen wir zum Quellgebiet der Pader, ein wirklich schön angelegter offener Parkbereich mit viel Wasser. Hier entspringt aus 200 Quellen die Pader, der kürzeste Fluss Deutschlands. Schon nach 4 Kilometern bei Schloss Neuhaus mündet die Pader in die Lippe, einen wesentlich wasserärmeren Fluss. Aber nichts desto trotz: Schluss ist da mit der Pader.

Direkt am Quellgebiet liegt die karolingische Kaiserpfalz, der Ort, an dem Karl der Große die erste fränkische Reichsversammlung auf sächsischem Boden abhielt. Ja, Paderborn lag damals mitten im Sachsenrein. Von dieser Pfalz stehen nur noch Grundmauern. Aber auf den Fundamenten der nachfolgenden ottonisch-salischen Kaiserpfalz aus dem 11. Jahrhundert wurde in den 1970er Jahren eine Rekonstruktion errichtet, in der sich heute ein Museum befindet. Ich wäre unheimlich gern reingegangen, aber wie schon erwähnt, es war Montag und alle Museen geschlossen. Ich war richtig traurig. Und so blieb uns nichts Anderes übrig, als eine Auswahl der zahlreichen Paderborner Kirchen der Reihe nach abzuklappern.

Kaum zu sehen: der Dom hinter dem Diözesanmuseum


Von außen macht der Dom einen majestätischen Eindruck, vorausgesetzt man schafft es, sich so hinzustellen, dass einem das mitten auf den Domplatz geklatschte Diözesanmuseum nicht den Blick versperrt. Eine städtebauliche Entgleisung ersten Grades! Ein monströses Ungetüm aus Beton, Glas und rot lackierten Metallverstrebungen klotzt mitten vor der Paradiespforte und lässt nur noch den Turm hinter sich vorlugen. Eine alte Dame steigt auf dem Parkplatz vor dem Museum in einen Mercedes Van und will offensichtlich aus einer verdammt engen Parklücke ausparken. Wir freuen uns schon auf eine umständliche Prozedur und schauen interessiert zu. Doch welche Überraschung – die Oma stößt zurück, schlägt ein zweimal ein und fährt schnittig davon. Wir sind ganz baff.

Im Dom suchen wir dann das berühmte Hasenfenster, eines der Wahrzeichen der Stadt Paderborn, wie die Stecknadel im Heuhaufen. Ich wollte schon aufgeben, aber Hannes hat es im Kreuzgang schließlich doch entdeckt. Ein Steinmetz aus dem 16. Jahrhundert hat das runde Fensterbild aus rotem Sandstein gehauen. Drei Hasen springen im Kreis, das Besondere daran beschreibt ein Spruch: „Der Hasen und der Löffel drei und doch hat jeder Hase zwei“. Man muss das Bild eine Weile auf sich wirken lassen, dann fällt einem das Kuriose daran erst richtig auf. Das Motiv mit den drei Hasen hat mich noch eine ganze Weile beschäftigt. Ich nutze die warme Mittagssonne, um in einem Café über Hasen im Volksglauben und in der Kunst nachzulesen. Solche Hasenbilder gibt es nicht nur in Paderborn. Besonders in England waren sie im Mittelalter sehr beliebt. Aber es ist noch viel älter. Schon in der Römerzeit waren die „Drei Hasen“ beliebt und schmückten unzählige Öllämpchen. Vermutlich wurde das Motiv über die Seidenstraße aus China nach Europa gebracht. Natürlich ist der Hase wegen seiner zahlreichen Nachkommenschaft schon lange ein Sinnbild für Fruchtbarkeit gewesen. Aber über verschlungene Gedankengänge hat er es in der Dreigruppe auch zum Symbol der Dreieinigkeit geschafft. 

Irgendwie typisch, erinnert mich an den Witz mit dem Eichhörnchen und dem lieben Jesulein: Fragt die Schwester im katholischen Kindergarten: „Was meint ihr denn, was das ist: es ist braun, hüpft durch den Wald sammelt eifrig Nüsse und hat einen buschigen Schwanz?“ Meint Klein Hänschen: „Normalerweise würde ick ja sagen, es ist ein Eichhörnchen. Aber wie ich den Laden hier kenne, ist es bestimmt das liebe Jesulein.“

Wir bummeln weiter durch die Stadt, bleiben vor vielen Kirchen stehen und gehen in wenige rein. Beeindruckt hat uns die Abdinghofkirche in ihrer romanischen Schlichtheit. Ursprünglich Anfang des 11. Jahrhunderts als Klosterkirche erbaut, wurde die Kirche nach der Säkularisation im 19. Jahrhundert zu einer evangelischen Kirche. Im Zweiten Weltkrieg wurde sie stark beschädigt. Sie wurde aber durch viele Spenden vor allem der Gemeindemitglieder bald wiederaufgebaut. Eine kleine Ausstellung mit Fotos und Texten beschreibt die letzten Kriegswochen und den Wiederaufbau der Kirche. Wir erfahren auch, welch große Bedeutung der Bahnhof Altenbeken damals für Paderborn und die Region hatte. In Altenbeken, wo wir in zwei Tagen übernachten werden, war ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt. Drei Strecken treffen hier aufeinander: Die Strecke über Warburg nach Kassel, die über Paderborn nach Hamm und die Strecke nach Hannover. In der Vergangenheit bedeutete dies, dass es in Altenbeken jeden Tag mehrere Tausend Umsteiger gab.


Den Rest unseres Ruhetags in Paderborn verbringen wir mit Essen, Lesen, Schaufenster schauen und Wein trinken. Am nächsten Morgen dürfen wir in der Jugendherberge freundlicherweise unser Frühstück mitnehmen, damit wir rechtzeitig den Zug nach Detmold erwischen. Wir bekommen sogar noch zwei Vespertüten mit Getränken und Süßies zum Einpacken unserer Brote.

Samstag, 3. Oktober 2015


Immer weiter, bis nach Linderhofe


Die Herrschaften aus Hameln kommen so gegen 18 Uhr an


Schon bei der Lektüre der Etappenbeschreibung ahnten wir, dass es hart werden würde: 33 Kilometer Wegstrecke, 1054 Höhenmeter Aufstiege und fast 800 Meter Abstiege. Wir buchten noch von der Jugendherberge in Hameln aus ein Zimmer im Hotel zur Burg Sternberg in Linderhofe im Extertal. Auf unsere vorsichtige Anfrage bei der Hotelrezeption, ob denn die Strecke für Normalwanderer zu schaffen sei und wie lange wir wohl brauchen würden, erhielten wir die ausweichende Antwort: Viele Wanderer würden die Strecke in zwei Tagen machen. Manche packten es aber auch an einem. „Die Herrschaften aus Hameln kommen dann meistens so gegen 18 Uhr hier an.“ Von einem anderen E1 Wanderer Ehepaar hörten wir zwei Tage später, dass sie es auch an einem Tag geschafft hatten, aber bei der Ankunft in Linderhofe dann auch total geschafft waren. Erst nach Einbruch der Dunkelheit seien sie im Hotel gewesen und so kaputt, dass sie sich das Abendessen ins Zimmer hatten bringen lassen.
Ganz so schlimm ist es uns nicht ergangen. Aber tatsächlich fehlen uns beiden mehr oder weniger die Erinnerungen an diesen Tag. Erst ging es von Hameln aus durch den Wald ziemlich steil hinauf zum Klütturm und weiter durch ein Waldgebiet mit demselben Namen. Später wanderten wir eine kleine Ewigkeit durch Wiesen und Felder und passierten irgendwann den Golfplatz bei Schloss Schwöbber. Hier wurde ich fast von einem fliegenden Golfball abgeschossen. Vor Augen hatten wir die Hohe Asch, ein Aussichtsturm auf 370 Metern, der höchsten Erhebung des Extertals und weithin sichtbar. Hier wollten wir ausgiebig rasten und uns mit Kaffee oder Bier für den Weiterweg stärken. Schön wär’s gewesen. Es gab zwar viel Aussicht, das ersehnte Lokal schien sich aber erst im Bau zu befinden. Dafür klebte dort ein Zettel vom Hotel Sternberg: Wir erfuhren, wie viele Kilometer noch bis zum Hotel vor uns lagen und dass man uns aber gern mit dem Auto abholen würde. Telefonnummer anbei. Natürlich wanderten wir weiter. Und weiter, und weiter bis zum nächsten Zettel mit Telefonnummer.
Endlich ging es den Berg hinunter und wir sahen ein Hinweisschild zum Campingpark Extertal. „Da will ich hin. Ich will ein Bier trinken.“ Ich war vom stundenlangen Geradeauslaufen so ausgepowert, dass sich meine Gesichtsmuskeln ganz starr anfühlten. Mittlerweile war es auch kühl geworden. „Ne.“ Hannes war genervt. „Jetzt machen wir keine Pause mehr. Es sind bloß noch fünf Kilometer bis zum Hotel, das zieh’n wir jetzt durch.“ „Ich kann nicht mehr und ich will auch nicht mehr.“ Ich war unnachgiebig. „Ich muss mich jetzt irgendwo reinsetzen und was trinken.“ Entschlossen bog ich in die Einfahrt zum Campingpark ein. Hannes trabte missmutig hinterher: „Schau, da steht: Gaststätte ab 17 Uhr geöffnet,“ triumphierte er. „Es ist noch nicht mal ganz Viertel vor Fünf, wir stehen doch hier jetzt nicht rum und warten, bis die aufmachen.“ Mir war zum Heulen. Ich ignorierte meinen grantigen Mann und klingelte an der Tür mit der Aufschrift Rezeption. Und oh Wunder, eine Frau kam und öffnete. „Können wir etwas zu trinken kaufen?“ fragte ich. Wir konnten. Und wir durften uns auch in die offiziell noch geschlossene Gaststube setzen und zuschauen, wie er Sohn des Hauses im großen offenen Kamin ein ordentliches Holzfeuer entfachte. Behagliche Wärme breitete sich aus. Das Bier stieg sofort in den Kopf und deckte alle Fuß- und Gliederschmerzen mit einem wohligen Nebel zu. Jetzt hierbleiben…
Mein sonst so lieber Hannes nippte völlig untypisch an einem kleinen Pilsfläschchen und schaute demonstrativ alle paar Minuten auf seine Uhr. „Ja, doch“, maulte ich. „Jetzt lass mich doch wenigstens ein paar Minuten ausruhen.“ Hannes schimpft in seinen schlimmsten Dialekt: „Sonscht renscht emmer vornadraus. Ausgerechnet heit, wo’s so weit isch, musch du Bier saufa. I will oifach net, dass ons wägä dir no d’Naht auf dr Buckl kommt.“ (Normalerweise rennst du immer vorne weg. Ausgerechnet heute, wo wir so eine weite Strecke haben, möchtest du ein Bier trinken. Ich möchte auf keinen Fall nach Einbruch der Dunkelheit ankommen.)

Die letzten 5 Kilometer hielt ich den Blick starr auf meinen Schrittzähler gerichtet und beobachtete, wie der Mechanismus alle 100 Meter weiterrückte. Als wir im Hotel Burg Sternberg ankamen, wurde es langsam dämmerig. Wir hatten es geschafft – auch mit meiner ertrotzten Einkehr noch vor Einbruch der Dunkelheit. Gegessen haben wir beide ganz manierlich im Speisesaal. Lang gesessen sind wir dort allerdings nicht mehr und auch die Hausbar haben wir an diesem Abend ignoriert. 

Freitag, 2. Oktober 2015

Jugendherberge mit sehr verborgenem Charme

Was wäre Hameln ohne Rattenfänger? 

(Bad Münder nach Hameln)

Wie steil es zum Süntelturm hinaufgeht, stellten wir am nächsten Tag dann selbst fest. Wir versuchten ebenfalls, die knapp 10 Kilometer „im Stechschritt“ zu machen, und kamen dabei ordentlich ins Schwitzen. Später passierten wir das Dreiländereck mit den drei historischen Grenzsteinen vom Königreich Hannover, dem Kurfürstentum Hessen und der Grafschaft Schaumburg. Über wunderschöne Wald- und Wiesenwege gelangen wir am frühen Nachmittag nach Hameln. Auf diese berühmte Stadt waren wir gespannt gewesen. Wir waren enttäuscht. Zwar wird der historische oder erfundene Rattenfänger vermarktet was das Zeug hält, aber sonst? Was machen die 3,8 Millionen jährlichen Tagesgäste, wenn Sie der Rattenspur aus bronzenen Pflastersteinen gefolgt sind und ihren Altstadtrundgang hinter sich haben? Kaffeetrinken, wie wir? Auf einem der vielen „Mittelaltermärkte“ Hand gezogene Bienenwachskerzen und Schaffelle einkaufen? Oder gebannt das neckische Rattenfänger Figurenspiel am Hochzeitshaus bewundern und dem Glockenspiel lauschen?

Wir waren an diesem Tag recht fußlahm und ließen die Altstadt bald hinter uns, um zur Jugendherberge am Weserufer hinauszulaufen. Diese Herberge hat den Charme eines Kraft-durch-Freude-Anwesens und scheint auch aus dieser Zeit zu stammen. Wir hatten eine tolle Nacht. Einige unmotivierte Pfadfinderführer machten mit ihren minderjährigen Schützlingen hier Station und hatten ganz offensichtlich Null-Bock, sich um die nervige Schar zu kümmern. Stundenlang tobten die Bande nachts durch die Gänge und erfreute sich am Lärm der hallenden Schritte und scheppernden Stubentüren. Dass ich ein paarmal „Ruhe“ brüllte, schien sie nur anzufeuern. Jetzt könnte man so einen Flöte spielenden Rattenfänger gebrauchen…

Am nächsten Morgen beim Frühstück kam meine Stunde der Rache. Kaum dass die verpennt dreinschauenden Führerlein den Essraum betraten, schoss ich von meinem Platz auf und stellte die nur halb ausgenüchterten Herren im Kommisston direkt vor dem Büffet zur Rede: „Gehören diese Kinder zu euch?“ Betretenes Nicken. Dann lege ich los: Dass die Rasselbande bis nach Mitternacht durch die Gänge getobt ist. Mit den Türen geknallt und rumgebrüllt hat. Dass keiner von den Verantwortlichen sich drum gekümmert hat. Und dass das nicht geht und eine Zumutung für alle anderen Gäste im Haus ist. Die jungen Männer protestieren nur schwach. Knicken dann völlig ein und schleichen betreten an ihren Tisch. Hannes ist sprachlos ob dieses frühmorgenlichen Donnerwetters aus dem Mund seiner Liebsten. Er sitzt still da und löffelt sein Müsli. Mag sein, dass er sich fremd schämt.
Fußgängerbrücke mit goldener Ratte über die Weser

Nach dem Frühstück brechen wir zügig auf, heute haben wir eine Mammuttour vor uns. Wir überqueren die Weser und knipsen zum Abschied noch die Fußgängerbrücke mit der goldenen Ratte. Ja, die Hamelner haben es geschafft, sich ihre Ratten zu vergolden.
Nachtrag: Laut Hannes habe ich das eigentliche Highlight von Hameln vergessen. Das sei nämlich das Steakhouse Cheyenne, in dem es einen beinahe lebensgroßen Indianer aus Holz zu bewundern und perfekt auf dem Punkt gebrachte Steaks zum Genießen gibt.