Freitag, 2. Oktober 2015

Jugendherberge mit sehr verborgenem Charme

Was wäre Hameln ohne Rattenfänger? 

(Bad Münder nach Hameln)

Wie steil es zum Süntelturm hinaufgeht, stellten wir am nächsten Tag dann selbst fest. Wir versuchten ebenfalls, die knapp 10 Kilometer „im Stechschritt“ zu machen, und kamen dabei ordentlich ins Schwitzen. Später passierten wir das Dreiländereck mit den drei historischen Grenzsteinen vom Königreich Hannover, dem Kurfürstentum Hessen und der Grafschaft Schaumburg. Über wunderschöne Wald- und Wiesenwege gelangen wir am frühen Nachmittag nach Hameln. Auf diese berühmte Stadt waren wir gespannt gewesen. Wir waren enttäuscht. Zwar wird der historische oder erfundene Rattenfänger vermarktet was das Zeug hält, aber sonst? Was machen die 3,8 Millionen jährlichen Tagesgäste, wenn Sie der Rattenspur aus bronzenen Pflastersteinen gefolgt sind und ihren Altstadtrundgang hinter sich haben? Kaffeetrinken, wie wir? Auf einem der vielen „Mittelaltermärkte“ Hand gezogene Bienenwachskerzen und Schaffelle einkaufen? Oder gebannt das neckische Rattenfänger Figurenspiel am Hochzeitshaus bewundern und dem Glockenspiel lauschen?

Wir waren an diesem Tag recht fußlahm und ließen die Altstadt bald hinter uns, um zur Jugendherberge am Weserufer hinauszulaufen. Diese Herberge hat den Charme eines Kraft-durch-Freude-Anwesens und scheint auch aus dieser Zeit zu stammen. Wir hatten eine tolle Nacht. Einige unmotivierte Pfadfinderführer machten mit ihren minderjährigen Schützlingen hier Station und hatten ganz offensichtlich Null-Bock, sich um die nervige Schar zu kümmern. Stundenlang tobten die Bande nachts durch die Gänge und erfreute sich am Lärm der hallenden Schritte und scheppernden Stubentüren. Dass ich ein paarmal „Ruhe“ brüllte, schien sie nur anzufeuern. Jetzt könnte man so einen Flöte spielenden Rattenfänger gebrauchen…

Am nächsten Morgen beim Frühstück kam meine Stunde der Rache. Kaum dass die verpennt dreinschauenden Führerlein den Essraum betraten, schoss ich von meinem Platz auf und stellte die nur halb ausgenüchterten Herren im Kommisston direkt vor dem Büffet zur Rede: „Gehören diese Kinder zu euch?“ Betretenes Nicken. Dann lege ich los: Dass die Rasselbande bis nach Mitternacht durch die Gänge getobt ist. Mit den Türen geknallt und rumgebrüllt hat. Dass keiner von den Verantwortlichen sich drum gekümmert hat. Und dass das nicht geht und eine Zumutung für alle anderen Gäste im Haus ist. Die jungen Männer protestieren nur schwach. Knicken dann völlig ein und schleichen betreten an ihren Tisch. Hannes ist sprachlos ob dieses frühmorgenlichen Donnerwetters aus dem Mund seiner Liebsten. Er sitzt still da und löffelt sein Müsli. Mag sein, dass er sich fremd schämt.
Fußgängerbrücke mit goldener Ratte über die Weser

Nach dem Frühstück brechen wir zügig auf, heute haben wir eine Mammuttour vor uns. Wir überqueren die Weser und knipsen zum Abschied noch die Fußgängerbrücke mit der goldenen Ratte. Ja, die Hamelner haben es geschafft, sich ihre Ratten zu vergolden.
Nachtrag: Laut Hannes habe ich das eigentliche Highlight von Hameln vergessen. Das sei nämlich das Steakhouse Cheyenne, in dem es einen beinahe lebensgroßen Indianer aus Holz zu bewundern und perfekt auf dem Punkt gebrachte Steaks zum Genießen gibt.


2 Kommentare:

Hannes hat gesagt…

So ganz genau, weiß ich nicht mehr, was ich während der Schimpftirade dachte.
Vermutlich war ich sehr stolz auf meine Liebste :-)

Hannes hat gesagt…

Nicht nur das erstklassige Steak hat Hiltrud vergessen. Nein, auch die alten Herren einer Studentenverbindung, die einen lustigen und lauten Abend neben uns verbrachten. An vorderster Stelle sollte jener Ü70er erwähnt werden, der den artig zuhörenden Füchsen der Verbindung die Welt so laut erklärte, dass auch wir davon ganz einfach profitieren konnten. Seither weiß ich ganz genau, wie mit der Flüchtlingskrise umzugehen ist, ohne dass Deutschland zugrunde geht. Allein seine Nebensitzerin, möglicherweise seine Gattin, schaute etwas gelangweilt in die Runde.